Alpenkräuter und Fettsirtenkultur
Bereits seit dem 16. Jahrhundert übt sich das Alpenvölklein der Berner Oberländer in der hohen Kunst der handwerklichen Käseherstellung. Inspiriert von den welschen Käsern im Saanenland, begannen die Sennen mit der Elaboration dessen, was wir heute als Berner Alpkäse kennen und schätzen: ein vollfetter Hartkäse aus Rohmilch, dessen Konsistenz und milde Würzigkeit auf seine Verwandtschaft mit dem Gruyère verweist.
Das Spezielle des Alpkäses liegt bereits in der Futtergrundlage der Kühe begründet: Auf den alpinen Sömmerungsweiden wachsen mehr Kräuter und andere Gräser als auf den Fettwiesen im Tal und im Mittelland. Ausserdem futtern die Chueli auf der Alp Barwengen weder Silage, noch Kraftfutter, was sich positiv auf den Geschmack der Alpmilch auswirkt.
Ein weiteres Qualitätsmerkmal des Berner Alpkäses ist die verwendete Fettsirtenkultur. Die beim Käsen zugegebenen Milchsäurebakterien entstammen einer Kreislaufkultur auf Molkebasis, die jede Alpsennerei selber zieht. Die mikroskopisch kleinen Scheisser wandeln den Milchzucker in Milchsäure um und verleihen dem Alpkäse ein intensives individuelles Aroma, das einen starken Bezug zum Terroir aufweist. Das Arbeiten mit Fettsirtenkultur erfordert Erfahrung und handwerkliches Knowhow. Fettsirtenkäse sind also quasi die Sauerteigbrote unter den Käsesorten.
Einheimische Exotik
Gerade aufgeklärte, übersaturierte StädterInnen, die sich in einfache, vormoderne Zeiten zurücksehen, kann der Genuss von Alpkäse in den schwärmerischen Modus der Alpenromantik versetzen.
Als kulinarischer Ausdruck der nationalen
Identität erschafft uns der Alpkäse eine imaginäre Gegenwelt zur atomisierten Schweizer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Sein würziges Aroma
evoziert bei nicht wenigen Zeitgenossen das Heimatbild einer idyllischen
Berglandschaft mit Weiden, Kühen sowie Sennen und Sennerinnen. Im Alpkäse schmecken wir den Bergler, diesen helvetischen Typus des edlen
Wilden, den von der Zivilisation unverdorbenen Naturmenschen (maskulin) im direktdemokratischen Urzustand.
Zugegeben: In vielen Fällen entpuppt sich das Narrativ von der schönen
Heimat im Kleinstaat als bürgerliche Ideologie im real existierenden Kapitalismus, der längst in die "Epoche der Herrschaft multinationaler Konzerne" (Max Frisch) eingetreten ist. Das heisst aber noch lange nicht, dass man den feinen Alpkäse (neu)rechten VolkstümlerInnen überlassen sollte.